Das innere Team nach Schulz von Thun
Kennst du das auch? Du möchtest eigentlich nur eine simple Entscheidung treffen – zum Beispiel, ob du heute Abend auf die Couch oder ins Fitnessstudio gehst – und plötzlich verwandelt sich dein Kopf in einen chaotischen Konferenzraum. „Sei nicht so faul!“ ruft eine Stimme, während eine andere kontert: „Gönn dir doch mal eine Pause, du hast es verdient!“ Willkommen in der Welt des inneren Teams, einem der faszinierendsten Konzepte des deutschen Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun – und nein, er heißt nicht „von Thurn“, obwohl sein inneres Team bei solchen Verwechslungen vermutlich die Augen rollt1.
Stell dir vor, in deinem Kopf sitzt nicht nur eine Person, sondern ein ganzes Team mit unterschiedlichen Charakteren, Meinungen und Bedürfnissen. Genau das ist der Kern des Modells vom inneren Team: Wir alle beherbergen verschiedene „Seelen in unserer Brust“, die sich (mehr oder weniger vernehmlich) zu Wort melden – bevor, während und nachdem wir sprechen oder handeln. Im Idealfall koordiniert ein kompetenter „Teamleiter“ – dein bewusstes Ich – diese bunte Truppe. Aber seien wir ehrlich: Oft gleicht unser inneres Team eher einem „ewig zerstrittenen Haufen“, der wild durcheinander plappert und uns in völlige Verwirrung stürzt.
Lass mich dir einige Stammgäste vorstellen, die vermutlich auch in deinem Kopf regelmäßig zur Teamsitzung erscheinen:
„Das hast du schon wieder total vermasselt! Andere hätten das viel besser hinbekommen.“ Unser Kritiker ist der Meister im Vergleichen und hat ein untrügliches Gespür für unsere Schwächen. Zum Schutz trägt er stets eine „Ich will doch nur dein Bestes“-Weste.
„Beweg dich! Es gibt immer etwas zu tun! Nichtstun ist Zeitverschwendung!“ Dieser energiegeladene Kollege arbeitet eng mit dem Kritiker und dem Perfektionisten zusammen und gönnt sich selbst nie eine Pause15. Sein Lieblingssatz: „Schlaf kannst du, wenn du tot bist.“
„Lass uns Spaß haben! Wer braucht schon einen Plan?“ Frech, neugierig und immer für ein Abenteuer zu haben. Es ist das perfekte Gegengewicht zum Perfektionisten und sorgt für die dringend benötigte Leichtigkeit15. Leider wird es oft von den „erwachseneren“ Teammitgliedern überstimmt.
„Oh mein Gott! Auf gar keinen Fall! Was wenn das alles schiefgeht? Wir landen unter der Brücke! Haben kein Geld mehr!“ Sie sieht potenzielle Katastrophen, lange bevor sie auch nur am Horizont auftauchen könnten.
Stellen wir uns vor, du überlegst, ob du dich selbstständig machen sollst. Die Teamsitzung in deinem Kopf könnte so ablaufen:
Der Teamleiter: „Okay, Leute, wir müssen entscheiden, ob wir den Job kündigen und uns selbstständig machen. Eure Meinungen bitte?“
Der Bedenkenträger (meldet sich sofort): „Wir sollten uns das alles erst mal ganz genau anschauen und nichts übers Knie brechen. Es kann da schon eine Menge schief gehen.“
Die Kreative (springt aufgeregt auf): „Ich will endlich etwas ERSCHAFFEN! In diesem langweiligen Bürojob verkümmere ich total!“
Die Sicherheitsfanatikerin (fällt fast vom Stuhl): „Seid ihr WAHNSINNIG? Wir könnten ALLES verlieren! Die Miete! Die Krankenversicherung! DEN KAFFEEAUTOMATEN!“
Der Antreiber: „Wenn wir es machen, dann aber SOFORT und VOLLGAS! Halbe Sachen bringen nichts!“
Das Spielerische Kind: „Cool, dann können wir uns die Arbeitszeiten aussuchen und zwischendurch Videospiele spielen!“
Der Kritiker (rollt mit den Augen): „Typisch. Alle anderen in unserem Alter haben längst erfolgreiche Startups gegründet, und wir diskutieren noch.“
Der Teamleiter (verzweifelt): „Könnte bitte EINER nach dem anderen sprechen?!“
Kommt dir das bekannt vor? Willkommen im Club der inneren Pluralität.
Im Coaching ist das Modell des inneren Teams ein wahrer Schatz. Es hilft dabei, innere Konflikte zu visualisieren und konstruktiv zu lösen. Statt sich von diesem „zerstrittenen Haufen“ überwältigen zu lassen, lernt man im Coaching, eine strukturierte „Teamsitzung“ abzuhalten.
Der erste Schritt dabei ist immer: Die einzelnen Teammitglieder identifizieren und würdigen. Ja, du hast richtig gehört – sogar deinen inneren Kritiker! Jedes dieser Teammitglieder will im Grunde nur dein Bestes, auch wenn ihre Methoden manchmal… nun ja, verbesserungswürdig sind.
Ein Coach könnte die verschiedenen „Stimmen“ mit dir gemeinsam auf ein Flipchart zeichnen – kleine Figuren mit Namen und ihrer Kernaussage21. So wird aus dem chaotischen Stimmengewirr plötzlich ein übersichtliches Bild. Du kannst dann jedem Teammitglied zuhören, ohne sofort in Panik zu geraten oder genervt die Augen zu verdrehen.
Wie wäre es, wenn dein inneres Team nicht wie eine Horde aufgeregter Kindergartenkinder durcheinander schreien würde, sondern wie ein gut eingespieltes Projektteam zusammenarbeiten könnte?
Der Trick dabei ist nicht, bestimmte Teammitglieder zum Schweigen zu bringen (auch wenn die Versuchung groß sein mag, dem Kritiker einen Maulkorb zu verpassen). Stattdessen geht es darum, allen zuzuhören, ihre Anliegen ernst zu nehmen und dann eine gemeinsame Lösung zu finden.
Probier doch mal diese kleine Übung aus:
Zum Beispiel könnte hinter der ständigen Kritik deines inneren Kritikers eigentlich der Wunsch stecken, dass du dein volles Potenzial ausschöpfst. Und vielleicht will deine Sicherheitsfanatikerin einfach nur verhindern, dass du schmerzhafte Erfahrungen aus der Vergangenheit wiederholst.
Das innere Team ist eine wunderbar anschauliche Metapher für die Vielfalt unserer Persönlichkeit. Statt uns für unsere inneren Widersprüche zu verurteilen, können wir lernen, diese Vielfalt zu schätzen und zu nutzen. Im Coaching kann die Arbeit mit dem inneren Team wahre Wunder bewirken – von der Lösung von Entscheidungskonflikten bis hin zur Entwicklung einer klareren und authentischeren Kommunikation.
Also, das nächste Mal, wenn in deinem Kopf ein chaotisches Meeting ausbricht, denk daran: Du bist nicht verrückt – du bist vielfältig! Und mit ein bisschen Übung kannst du vom chaotischen Komitee zum harmonischen Dream-Team kommen. Oder wie Friedemann Schulz von Thun sagen würde: Es ist nicht schlimm, viele Seelen in der Brust zu haben – problematisch wird es nur, wenn sie nicht miteinander reden.
PS: Mein innerer Perfektionist besteht darauf, dass ich anmerke: Natürlich kann dieser Blogbeitrag das komplexe Modell des inneren Teams nicht vollständig abdecken. Aber mein spielerisches Kind sagt: „Hauptsache, es hat Spaß gemacht!“