Selbstcoaching in komplexen Spannungsfeldern
Das Wort „Coaching“ stammt ursprünglich aus dem Englischen und bedeutet wörtlich „Kutsche“. In der Metapher des Coachings weiß der Passagier (der Kunde), wohin er möchte, während der Kutscher (der Coach) ihn mit der passenden Methode unterstützt, um sein Ziel zu erreichen. Coaching hat sich als lösungs- und zielorientierte Begleitung von Menschen in beruflichen Kontexten etabliert und dabei einen bemerkenswerten Wandel in der gesellschaftlichen Bewertung erfahren.
Früher wurde Coaching oft als Problemlösung für Führungskräfte in Krisensituationen verstanden („Ich brauche Coaching“). Heute hingegen wird es als Begleitung bei Selbstreflexion und der eigenständigen Verbesserung von Interaktionen in zunehmend komplexeren Zusammenhängen betrachtet („Ich bekomme Coaching“). Ein Coach zu haben gilt mittlerweile als Privileg: Es signalisiert, dass man eine anspruchsvolle Tätigkeit ausübt und – sofern das Coaching vom Arbeitgeber finanziert wird – dass das Unternehmen in die Weiterentwicklung seiner Mitarbeiter investiert.
Eine moderne Führungskraft zeichnet sich durch Effizienz im Denken und Handeln aus, insbesondere angesichts immer dynamischer werdender Entscheidungsprozesse. Diese Effizienz entsteht jedoch nicht von selbst: Sie erfordert Zeit für Reflexion und die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln.
Führungskräfte müssen ihr Umfeld als ein komplexes System begreifen, Informationen sowohl fachlich als auch emotional filtern und interpretieren können. Entscheidungen werden oft direkt im laufenden Prozess getroffen, was bei Überlastung zu unüberlegten „Hau-Ruck-Aktionen“ führen kann. Solche Maßnahmen sind meist nur kurzfristig wirksam und können langfristig destruktive Folgen haben. Alternativ kann Überlastung zu Starrheit oder einer generellen Ablehnung von Veränderungen führen.
Nachhaltige Unternehmensentwicklung wird möglich, wenn Führungskräfte die Fähigkeit besitzen, Komplexität auf wesentliche Dynamiken zu reduzieren und darauf basierend fundierte Entscheidungen zu treffen. Dabei ist es entscheidend, am Ziel festzuhalten, ohne dessen Berechtigung aus den Augen zu verlieren – eine scheinbare Paradoxie, die verantwortungsbewusstes Handeln mit Offenheit für Feedback und Anpassungen verbindet.
Erfolgreiche Führung entsteht durch eine Balance zwischen Zielorientierung, Beziehungsorientierung sowie Widerstandsfähigkeit gegenüber Herausforderungen. Diese Fähigkeiten setzen jedoch eine Bereitschaft zur Selbstreflexion und Weiterentwicklung voraus, um auch in Zeiten starker Veränderungen innere Souveränität zu bewahren.
Im hektischen Alltag bleibt Führungskräften oft wenig Zeit zur Selbstreflexion – ein fataler Fehler. Innere Klarheit ist essenziell, um authentisch und wirksam agieren zu können. Wie kann eine Führungskraft überzeugend auftreten, wenn sie selbst innerlich nicht von ihrem Handeln überzeugt ist?
Die Versuchung ist groß, sich ausschließlich auf operative Aufgaben zu konzentrieren – dringende und wichtige Tätigkeiten werden erledigt, während langfristige strategische Entscheidungen oft vernachlässigt werden. Doch gerade diese nicht dringenden, aber wichtigen Aufgaben sind entscheidend für die nachhaltige Verknüpfung der Führungsrolle mit der Persönlichkeit des Menschen hinter der Rolle.
Johann Wolfgang von Goethe schrieb einst: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ Dieses Zitat beschreibt treffend das Konzept des inneren Teams, das im Selbstcoaching eine zentrale Rolle spielt. Innerhalb der Psychologie wird zunehmend auf die Idee innerer Persönlichkeitsanteile Bezug genommen: Gedanken oder innere Stimmen agieren wie Mitglieder eines Teams und führen einen ständigen Dialog miteinander – oft unbewusst.
Das Modell des „Inneren Teams“ von Friedemann Schulz von Thun ordnet diesen inneren Stimmen spezifische Persönlichkeitsanteile zu, die wie Personen agieren und miteinander interagieren. Je nach innerem Betriebsklima kann dieses Team produktiv zusammenarbeiten oder chaotisch zerstritten sein (z.B.: „Es ist schon spät – du solltest aufstehen!“ vs. „Es ist doch so gemütlich – bleib noch liegen!“).
Im Selbstcoaching kann dieser innere Dialog bewusst geführt werden: Durch strukturierte Fragen lassen sich Strategien entwickeln, die für alle Persönlichkeitsanteile zufriedenstellend sind. So entsteht Klarheit über die eigenen Bedürfnisse und Interessen sowie über mögliche Konflikte oder Blockaden im Entscheidungsprozess. Wertschätzender Umgang mit den eigenen inneren Stimmen fördert Motivation und eröffnet neue Gestaltungsspielräume.
Selbstcoaching erfordert Planung und Struktur – es lässt sich nicht „mal eben“ auf dem Weg ins Büro durchführen. Ein klarer Termin im Kalender sowie ein störungsfreier Raum sind ebenso notwendig wie Konzentration auf ein spezifisches Thema oder einen konkreten Fall. Die Gefahr der Verallgemeinerung ist groß; daher sollte das Anliegen präzise formuliert werden, um spezifische Lerngewinne zu erzielen.
Ein wertschätzender Umgang mit allen Gedanken – auch den scheinbar unwichtigen oder unangenehmen – erhöht den Gestaltungsspielraum und die Motivation. Nach jedem Selbstcoaching sollten konkrete Schritte festgelegt werden: Nicht das Coaching selbst bewirkt Veränderung, sondern die Umsetzung neuer Verhaltensweisen.
Selbstcoaching ist eine anspruchsvolle Arbeitsform, die gezielte Methoden und ein klares Setting erfordert. Wenn dies gelingt, kann die Person sowohl Passagier als auch Kutscher ihrer eigenen Reise sein – bereit für neue Ziele und Herausforderungen.